Lern- und Skriptengruppe | 1972
Wir „die Skriptengruppe“ begannen im Herbst 1972 unser Wirtschaftsstudium. Gemerkt/gewusst haben wir nicht, dass wir „Gründungsstudenten“ unserer Gesamthochschule waren.
Der Hochschule in Siegen zugeteilt wurden wir durch die Zentrale Vermittlungsstelle in Dortmund (ZVS). Wir kamen aus Berlin, Paris, Wolfsburg, Ostwestfalen, dem Raum Köln/Bonn, Nordhessen, … Viele von uns hatten schon eine Lehre! mit anschließender Berufstätigkeit hinter sich. Wir kamen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Käfer, Ente und Ford Taunus.
Diejenigen von uns, die das Siegerland nicht kannten, wunderten sich über das rollende „R“, das „woll“ und die hochgeklappten Bürgersteige nach 18.00 Uhr. Von studentischem Leben war in der Öffentlichkeit wenig zu spüren. Zahlreiche Studenten kamen aus dem Siegerland. Nachteilig war, dass viele Kommilitonen am Wochenende nach Hause fuhren um im elterlichen Betrieb tätig zu sein, oder die Freundin zu besuchen. Auch die Professoren sollen am Wochenende die „Flucht“ ergriffen haben. Professor Bodo Gemper wurde an einem Samstagabend zufällig in der Bonner Innenstadt gesehen. Bei uns entstand das Gefühl, dass die Siegerländer auf die wachsenden Studentenzahlen noch nicht vorbereitet waren.
Wir waren der erste sogenannte Kurzzeitstudiengang, der in der neuen Hochschullandschaft erst noch seinen Platz finden musste. Daher war noch vieles provisorisch. Unsere Profs mussten sich noch um den Status Professor bewerben. Auch unser Abschluss hat später noch ein Upgrade bekommen – zumindest beim Titel, der mittlerweile allerdings wiederum der Vergangenheit angehört.
Zu Beginn des Studiums teilten wir die Räumlichkeiten mit den Bauingenieuren. Danach zogen wir in den „Alche Pavillion“, der kein Lustbau war, sondern aus Baracken/Containern unter alten Bäumen an der Alche bestand.
Die erste Woche war heftig. 36 Stunden Vorlesungen/Seminare! Ein Student: „Als die 3 Stunden Vorlesung in VWL von Professor Birnstiel beendet waren, war ich fix und fertig.“ So ging es vielen von uns. Vor allem diejenigen, die nach jahrelanger beruflicher Tätigkeit sich auf so viel Theorie konzentrieren mussten, hatten ihre Schwierigkeiten.
Sie mussten das Lernen erst wieder lernen. So waren viele heilfroh, dass wir mit der Idee einer Skriptengruppe viel Erfolg hatten. Es fanden sich 18 Studenten, die jeweils zu 2-3 Kommilitonen sich für die Nacharbeit bestimmter Fächer verpflichteten. Die Resultate mussten zeitnah und geordnet an den Rest der Gruppe verteilt werden.
Die Skripten wurden mit der mechanischen Schreibmaschine auf Matrizen getippt, die dann vervielfältigt wurden (Fotokopien wären damals viel zu teuer gewesen). Wir trafen uns in unseren Buden und auch in den Elternhäusern, so lernten wir die Umgebung von Betzdorf bis nach Walpersdorf (nähe Siegquelle) kennen. Kommilitonen, die nicht unserer Gruppe angehörten, aber an den Aufzeichnungen interessiert waren, konnten ein Skript für anfänglich DM 0,20 kaufen. Der Verkauf lief langsam an. Es sprach sich unter unseren Kommilitonen schnell herum, dass es sich um qualitativ verlässliche Skripte handelte. Dadurch steigerte sich der Absatz. So standen uns ausreichend finanzielle Mittel für die Materialkosten zur Verfügung und wir konnten schnell kostendeckend arbeiten. Später blieb durchaus eine stattliche Summe übrig um am Semesterende feiern zu können.
Die Bauarbeiten auf dem Haardter Berg nahmen ihren Fortschritt und mit Beginn des 3.Semesters bezogen wir die neuen Räume. Auch eine Mensa gab es jetzt. Parkplätze waren begehrt, aber leider sehr rar. Studentinnen gab es in unserem Studiengang nur sehr, sehr wenige. Manche dieser Kommilitoninnen wechselten in die Sozialarbeit (Projekt Fludersbach), oder suchten ihr Heil in der Ehe. Weibliche Professoren /Dozenten hatten wir keine.
Die Berufserfahrung half vielen Studenten, die reinen Theoretiker hatten Vorteile in Mathe, gaben ihre Kenntnisse aber gerne weiter. Im ersten Semester gab es noch Seminare mit Kommis aus höheren Semestern, gerade in Mathe, um den hohen Ansprüchen des Matheprofessors Kahleis besser gewachsen zu sein.
Das erste Studienjahr verging durch die hohe Arbeitsbelastung wie im Fluge. Scheine über Scheine mussten wir einsammeln. Die ersten zwei Semester ähnelten eher einer Fachschule, denn eines Studiums. Aus unserem damaligen Blickwinkel Überflüssiges wie z.B. Wissenschaftstheorie, standen auf dem Stundenplan. Ein Kommilitone erinnert sich „Ich freute mich immer auf Freitag: Volkswirtschaftslehre bei Birnstiel. Ein guter Vermittler der Materie mit überraschenden Attacken. So z.B. „Was sagen Sie denn mit dem Oberammergaubart dazu?““ Wir blieben in seiner Vorlesung immer hellwach, denn vielleicht war man ja der nächste, der sich zum Seminarstoff äußern sollte.
Die praktischen Übungen in den Fächern Marketing und Marktforschung begeisterten uns. Ein Student „Ein Highlight war für mich Marketing bei Professor Bott, der uns ein tolles Planspiel mitbrachte, das uns zeigte wo die Grenzen zwischen Theorie und Praxis liegen.“ Ein Student zu der Markterhebung im Fach Marktforschung: „Hier habe ich viel für mein späteres Berufsleben gelernt.“
Die Suche nach bezahlbarem Wohnraum stellte sich als schwierig heraus. Ein ehemaliger Student, der mit einem Kommilitonen angereist war, berichtet: „schließlich landeten wir im Schlafzimmer einer Familie in Kreuztal-Ferndorf. Über dem Ehebett der röhrende Hirsch, der gerade aus dem Gebüsch irgendwo im Rothaargebirge heraustritt. Die Federbetten so schwer, dass Albträume nicht zu vermeiden waren“. Glücklich konnte sich da derjenige schätzen, der über Beziehungen ein Zimmer z.B. in Geisweid bekommen hat. Ein Zimmer, das nicht einmal 12qm hatte mit einem Kinderschreibtisch von 1m Breite, dafür aber mit Familienanschluss, Kost und Logis. Jeden Morgen gab es Frühstück. Die anderen Mahlzeiten waren für ihn manchmal gewöhnungsbedürftig. So stand oft Pansen auf dem Speiseplan.
Wir wohnten in kleinen Zimmern, teils mit Ofenheizung und Toilette im kalten Treppenhaus. Unsere Vermieter nutzten unsere Abwesenheit um zu putzen oder feuerten die Öfen an.
An ein Studentenwohnheim können wir uns nicht erinnern. WGs gab es sehr wenige, die auch höchstens von der Arbeit abgelenkt hätten – waren wir damals der Meinung.
Telefon, Computer, Internet gab es nicht. Wollten wir mit der Heimat telefonieren, gingen wir mit ausreichend Kleingeld zur Telefonzelle. Radio, Plattenspieler und eine mechanische Schreibmaschine (die übrigens sehr laut war) standen in unserer Studentenbude. Um nach Bandsalat die Kassetten wieder in den Recorder zu bekommen, musste immer ein Bleistift oder Schraubenzieher parat liegen. Luxus war eine elektrische Kugelkopfschreibmaschine von IBM, oder ein kleiner Schwarz-/Weiß-Fernseher.
Sportlich betätigten wir uns auf dem Trimmpfad, wir wanderten, wozu es reichlich Möglichkeiten gab, oder gingen schwimmen im Gebäude der PH (Pädagogische Hochschule), im Freibad Kaan-Marienborn und Siegen-Seelbach, oder wir tanzten in einem Dorf in den Mai. Ein Student schreibt: „Ein Freizeitvergnügen, das ich während meiner Zeit in Siegen kennengelernt habe, ist das Saunabaden. Zunächst in einer Sauna in einem Hotel am Rand der Siegener Unterstadt (ging so) und später dann in einer Sauna, ich glaube in Eiserfeld. Zwar jwd, aber eine für damalige Verhältnisse großzügige und moderne Anlage, deren Besuch nachher dann zum regelmäßigen Programm gehörte. Hin und wieder auch schon mal ab Freitag vormittags zum Auftakt des Wochenendes. Man gönnte sich ja sonst nichts… Nach der Sauna gab es häufig in einer Gaststätte, von der sich rumgesprochen hatte, dass sie Schnitzel in der Größe von Klodeckeln serviert, noch ein ordentliches Abendessen. Also insgesamt ein perfekter Tag…“
Die studentische Kneipenszene war zu unserer Zeit mäßig. Das Leben nach dem Hörsaal spielte sich im Wesentlichen in den diversen Buden und sonstigen Bleiben von Kommilitonen ab. So gibt es Erinnerungen zu privaten Feten, Skatrunden und manchmal einfaches Rumhängen, getarnt als gemeinsames Lernen. Dabei gibt es mitunter reichlich zu trinken. Trotz des Spruchs „Irle Pils – keiner will’s“ war die Siegener Lokalmarke unter Studenten sehr beliebt, da unschlagbar billig.
Die Kneipen mit den meisten Studentenbesuchen in unserer Studienzeit waren die „Dose“ in Weidenau, das „Belle Epoque“ (Musik und Künstlerkneipe) in Siegen – wurde 1972 eröffnet, das „Zeughaus“ am Oberen Schloss in Siegen und das „Peun“- Kneipe der vielen verschiedenen Biere. Vom 11.-13.Mai 1974 fand in der Siegener Oberstadt die 750 Jahrfeier der Stadt Siegen statt. Das war ein idealer Treffpunkt für viele Studenten der GHS.
Oft trafen wir uns vor, nach und zwischen Seminaren und Klausuren in dem Café „Langenbach’s Gerd“ – unser Stammlokal auf dem Haardter Berg. Dieses Café war auch der Anlaufpunkt nach erfolgreich bestandener mündlicher Prüfung, die unser Studienende bedeutete.
Kulturell war die Siegerlandhalle angesagt mit Auftritten von Otto, Hannes Wader, einer tollen Brasilienshow und vielen Musikgruppen.
Auch politisch war einiges los. Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 1972, es ging um die Neuauflage der sozialliberalen Koalition, war Siegen offensichtlich ein politischer Hotspot. Mit vielen Veranstaltungen, Politprominenz und entsprechendem Tam-Tam wurde Wahlkampf gemacht. Es sprach u.a. Willy Brand in der Siegerlandhalle. Mit der Siegener Bevölkerung konnten wir anschließend heftig, lautstark und kontrovers in den Kneipen diskutieren. Ein Student: „An den Slogan des FDP-Lokalmatadors Rechtsanwalt Schleifenbaum kann ich mich noch erinnern, weil er sich so schön reimte: „Was stört uns Barzels Seifenschaum, wir wählen Scheel und Schleifenbaum“.“
Bereits kurz nach unserer Einschreibung in Siegen, begannen Streiks und Demonstrationen. Ein Student erinnert sich: „Große Versammlungen in der Mensa der PH(?). Ich glaube es ging um Kürzungen des Bafögs und dann wurde auch gleichzeitig eine Abrechnung mit dem kapitalistischen System gemacht. Die Studentenführer von den verschiedenen Studienzweigen haben mich unglaublich beeindruckt. Unser Zweig Wirtschaft „wir werden nur auf den Bedarf und die Anforderungen der Industrie ausgebildet.“ Hatte ich nie drüber nachgedacht!“ Begleitet wurden diese Auftritte durch Demonstrationszüge durch die Siegener Unterstadt. Die Zeitungen berichteten am nächsten Tag ausgiebig. Die Mehrzahl der Professoren/Dozenten unterstützte das Anliegen der Studenten. Die Aktionen scheinen erfolgreich gewesen zu sein: 1972 gab es DM 420,00 Bafög Höchstsatz pro Monat, der 1973 auf DM 455,00 angehoben wurde.
Bei einem anderen Streik setzten wir uns für unser Studienmodell ein. Dabei ist uns erst klar geworden, wie gut unser Studienmodell war. Ein Student erinnert sich „Einen Aufruf werde ich nicht vergessen: „Wenn wir jetzt keinen Streik ausrufen und durchführen, dann kriegen wir später keinen mehr hoch.““ Tatsächlich sind wir dann in einer großen Gruppe durch Siegen marschiert und haben protestiert. Mit Erfolg! Wir mussten allerdings unser Studium in der vorgesehenen Zeit beenden, weil wir sonst in das neue Modell hineingerutscht wären.
Kennzeichnend für unsere Studienzeit wurde der Zusammenhalt durch die Skriptengruppe und die gemeinsame Vorbereitung auf Klausuren. So lernten wir schon früh zu Netzwerken und im Team zu arbeiten, natürlich ohne diese Begriffe zu kennen. Ein Kommilitone der sicher vielen aus dem Herzen spricht: „Hiermit allen in der Skriptengruppe herzlichen Dank! Ohne euch hätte ich es nicht geschafft.“
Unsere gemeinsame Arbeit hat sich gelohnt. 1975 konnten wir unser Studium als graduierte Betriebswirte abschließen. Wir erreichten, dank der guten Vorbereitung in Siegen, alle Führungspositionen in namhaften Unternehmen im In- und Ausland. Geschäftsführer, Prokurist, Leiter in Vertrieb, Finanzen, Steuern, Revision, Öffentlichkeitsarbeit und Weiterbildung und Konrektor einer Berufsschule sind wir geworden. Im Jahr 2000 haben wir uns wieder gefunden und pflegen seitdem weiter unser Netzwerk.
Japan, Deutschland, Brasilien im Januar 2022
Für die Skriptengruppe:
Lutz Borowski
Christine Götzky
Werner Höfer
Heiner-Lutz Krusch
Hubert Rolland
Manfred Schartmann
Hermann Soetebeer
Otto Wendland